Es war ein Jahr nach seinem Tod. Ich hatte ihn nicht kommen sehen. Wir waren noch nicht fertig miteinander. Vieles war ungesagt geblieben. Ich war unsicher, ob ich in diesem Jahr den Weihnachtsg*ttesdienst besuchen konnte, besuchen wollte.
Weihnachten war immer sein Fest gewesen. Mühevoll hatte er über Jahre in meiner Kindheit eine Krippenlandschaft aus Hasendraht, Gips, Farbe, Rinde, Erdnusschalen und Wurzelresten gebastelt, durch die sogar ein echter Miniaturbach floss und in der ein Lagerfeuer flackerte. An Heiligabend war er der Zeremonienmeister. Wir Kinder bestanden darauf, dass die Glastüre, die ins Wohnzimmer führte, jährlich mit einer Decke abgehängt wurde, damit das Christkind ungestört die Geschenke unter den Baum legen konnte, auch als wir schon längst wussten, wer uns tatsächlich beschenkte. Auch für ihn selbst lag jedes Mal etwas da, das er mit Überraschung „entdeckte“ und mit den Worten „Oh, was hat das Christkind mir denn Schönes gebracht?“ auszupacken begann.
Das Weihnachten meiner Kindheit war ohne ihn endgültig vorbei. Nicht nur, weil er kurz vor Weihnachten gestorben war, sondern auch, weil es untrennbar mit ihm verbunden war.
Dennoch: Es war wieder Weihnachten geworden. Auch ohne ihn.
Ich ging in die Christmette. Es war wie erwartet nicht leicht. Ich musste ständig an ihn denken. Auch weil es ihm immer so wichtig war, dass wir an jedem Sonntag und mindestens an den gebotenen römisch-katholischen Feiertagen eine Eucharistiefeier besuchten, selbst dann, wenn wir als Kinder und später als Jugendliche keine Lust dazu hatten.
Als im Hochgebet nach der Wandlung der Satz an der Reihe war: „Gedenke unserer Geschwister, die entschlafen sind in der Hoffnung, dass sie auferstehen“, den auch er Sonntag für Sonntag gehört hatte, fragte ich mich, ob er diese Hoffnung eigentlich wirklich hatte, als er starb. Und: Hatte ich diese Hoffnung, dass nach dem Tod noch irgendetwas wartet außer das Nichts?
An seinem offenen Grab hatten wir „Christus ist erstanden“ angestimmt. Vielleicht mehr aus Trotz denn aus Hoffnung.
Tränen kullerten mir inzwischen über mein Gesicht in diesem
Weihnachtsg*ttesdienst, während ich an all das dachte. Doch plötzlich spürte ich eine tiefe Verbundenheit mit ihm. Mit ihm und allen meinen anderen Toten, die, solange sie lebten, ebenso immer wieder zusammengekommen waren, um zu tun, was Jesus mit seinen Freund*innen getan hatten. Wir waren verbunden in der Erinnerung an dieses Abschiedsessen vor langer Zeit. An geteiltes Brot, geteilte Träume, geteiltes Leben. An Wein aus einem Becher für alle. Verbindungs- und Erkennungszeichen über den Tod hinaus. Auch über den Tod meines Vaters hinaus. Eine durch die Jahrhunderte und Generationen reichende Versammlung von Erlösungssehnsüchtigen, Gerechtigkeitshungrigen und Hoffnungstrotzigen.
Immer wieder alle um einen Tisch. Zum Abschiedsessen, das nach Wiedersehen schmeckt.
Vor einigen Monaten wurde ich von Eva Jung von Godnews.de zu einem Brainstorming eingeladen. Sie wollte von mir und ein paar anderen tollen Menschen mit verschiedenen christlichen Hintergründen und Prägungen wissen, was wir über „Abendmahl“ denken und ob/was es uns bedeutet. Gar nicht so einfach, mit anderen darüber zu sprechen. Das war gleichzeitig spannend, befremdlich, irgendwie intim und ich habe einiges gelernt. Auch über mich. All die Gedanken, Geschichten, Emotionen und Erfahrungen, die wir miteinander geteilt haben, hat das Godnews-Team in das Projekt Abendmahl.jetzt gegossen.
Obiger Text ist einer von zwei Texten, die ich für das Projekt geschrieben habe.