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„Ich bin, wer ich bin“

„Ich bin, wer ich bin“

    (Ex 3,14)

    Von Schubladen, Menschen und Schnabeltieren und warum G*tt Fan von Vielfalt ist

    Intro I

    Am Anfang hat G*tt Himmel und Erde erschaffen.
    Da war die Erde noch leer und ungestaltet
    und Dunkelheit lag über der Urflut
    und G*ttes Geistkraft bewegte sich über dem Wasser.
    Da sprach G*tt:
    „Licht werde“.
    Und Licht wurde.
    G*tt sah das Licht: Ja, es war gut.
    Und G*tt trennte das Licht von der Dunkelheit.
    G*tt nannte das Licht „Tag“
    und die Dunkelheit „Nacht“.
    Es wurde Abend und es wurde Morgen:
    erster Tag.

    Dann sprach G*tt:
    „Es werde ein Gewölbe mitten im Wasser
    und trenne Wasser von Wasser.“
    Und so geschah es.
    Und G*tt nannte das Gewölbe „Himmel“.
    Es wurde Abend und es wurde Morgen:
    zweiter Tag.

    Dann sprach G*tt:
    "Das Wasser unterhalb des Himmels sammle sich an einem Ort,
    sodass das Trockene sichtbar werde."
    Und so geschah es.
    G*tt nannte das Trockene „Land“
    und die Ansammlung des Wassers „Meer“.
    G*tt sah: Ja, es war gut.
    Dann sprach G*tt:
    „Die Erde lasse junges Grün sprießen,
    Gewächs, das Samen bildet,
    Fruchtbäume,
    die nach ihrer Art Früchte tragen mit Samen darin.“
    Und so geschah es.
    G*tt sah: Ja, es war gut.
    Es wurde Abend und es wurde Morgen:
    dritter Tag.

    Dann sprach G*tt:
    „Lichter sollen am Himmelsgewölbe sein,
    um Tag und Nacht zu trennen.
    Sie sollen als Zeichen
    für Festzeiten, für Tage und Jahre dienen.
    Sie sollen Lichter am Himmelsgewölbe sein,
    um über die Erde zu leuchten.“
    Und so geschah es.
    G*tt machte die beiden großen Lichter,
    das große zur Herrschaft über den Tag,
    das kleine zur Herrschaft über die Nacht,
    und die Sterne.
    G*tt sah: Ja, es war gut.
    Es wurde Abend und es wurde Morgen:
    vierter Tag.

    Dann sprach G*tt:
    „Das Wasser soll nur so wimmeln von Schwärmen lebendiger Wesen
    und Flugtiere sollen über der Erde am Himmelsgewölbe fliegen.“
    Und G*tt erschuf die großen Wassertiere und alle Lebewesen,
    die sich fortbewegen nach ihrer Art,
    von denen das Wasser wimmelt,
    und alle gefiederten Tiere nach ihrer Art.
    G*tt sah: Ja, es war gut.
    Es wurde Abend und es wurde Morgen:
    fünfter Tag.

    Dann sprach G*tt:
    „Die Erde soll Lebewesen aller Art hervorbringen,
    Vieh,
    Kriechtiere
    das Wild der Erde, alle nach ihrer Art.“
    Und so geschah es.
    G*tt sah: Ja, es war gut.

    Dann sprach G*tt:
    „Wir wollen Menschen machen
    als unser Bild, uns ähnlich!
    G*tt erschuf die Menschen als g*ttliches Bild,
    als Bild G*ttes wurden sie geschaffen.
    Männlich und weiblich erschuf G*tt sie.
    G*tt segnete sie. G*tt sah alles an, was G*tt gemacht hatte:
    Und siehe: Ja, es war sehr gut.

    Gen 1

    Intro II

    Am Anfang war also G*tt da. Mit Schaffenskraft und Tatendrang.

    Ungestaltete Leere. Alles war möglich. G*tt bringt erstmal Licht ins Dunkel und: siehe, da waren nicht nur Tag und Nacht, sondern auch Polarlichter, Abendrot, Morgengrauen, kurze Tage mit wenig Licht und lange Tage mit viel Licht und so weiter.

    Dann widmete G*tt sich dem Wasser. Wasser vom Himmel: Regen, Niesel, Schnee, Pulverschnee, Harsch, Hagel, Eisregen. Wasser auf der Erde: Meer und Land, aber auch das Watt, das manchmal Land ist und manchmal Wasser, Moore, die irgendwie beides gleichzeitig sind, Seen, Flüsse, Inseln und Marschland.

    Dann tobte G*tt sich bei den Himmelskörpern aus: Mond und Sonne, aber auch verschiedene Sternarten, Kometen, Asteroiden, Planeten aus Gestein, Planeten aus Gas, ganze Galaxien und Schwarze Löcher kamen G*tt in den Sinn.

    Dann machte sich G*tt an die Lebewesen: Pflanzen und Tiere, aber auch Mikroorganismen wie Pilze, Urtierchen und Algen. Hach, was G*tt da alles einfiel. G*tt konnte kaum an sich halten bei all den Farben und Formen und den unzähligen Kombinationen daraus, die da aus G*tt sprudelten. Bäume, Gräser, Sträucher und andere Gewächse: Schwämme, Seeanemonen und Korallen, die Pflanzen ähneln, aber zu den Tieren gezählt werden. Eierlegende Säugetiere wie das Schnabeltier. Vögel, die nicht fliegen können, dafür aber schwimmen wie die Pinguine. Fische, die schwimmen und durch die Luft gleiten können wie der Schwalbenfisch. Eine ganze Reihe von Tiere, die an Land und unter Wasser gleichzeitig leben usw.

    Während G*tt so vor sich hinschöpfte und sich daran freute, was da so alles entstand, kam G*tt plötzlich eine weitere Idee. Ach komm, wir machen Menschen. Als unser Bild.

    Kaum ausgesprochen, schon waren Menschen da. Manche waren weiblich, manche männlich, manche waren weiblich und männlich zugleich. Von manchen hätte mensch denken können, dass sie weiblich waren, aber sie waren männlich und umgekehrt. Manche waren weder weiblich noch männlich, sondern ganz anders oder hatten mit Geschlecht gar nichts am Hut. Unabhängig davon waren alle Menschen auch groß und klein und mittellang, hatten unterschiedliche Körperformen, Hauttönungen, Augen- und Haarfarben. Manche hatten gute Augen. Andere konnten mit den Händen sehen. Wieder andere hatten so feine Ohren, dass sie die Zwischentöne heraushören konnten. Manche hatten den Traum auf großen Bühnen Ballett zu tanzen. Andere hatten wunderbare Ideen, wie alle gut zusammenleben könnten. Wieder andere spürten, dass es manchmal mehr als genug ist, einfach zu atmen und konnten sehr gut gar nichts machen. Und und und…. Und dann gab es auch noch alle möglichen Kombinationen und Varianten, sodass am Ende jeder Mensch ein einzigartiges Individuum wurde, das es kein zweites Mal gibt und in keine einzige Schublade passte. Schließlich waren alle G*ttes Bild.

    Und G*tt sah alles an, war mächtig überrascht und angetan und berührt von all der Kreativität und Lebendigkeit und Vielfalt und sagte sich: Ja, das ist alles sehr gut. Und das ist bis heute so.

    Binarität als Schöpfungsordnung?

    Wenn du bis hierher gelesen hast: Herzlichen Glückwunsch. Ich gebe zu, das war bis jetzt schon viel Text. Es geht allerdings noch weiter. Vielleicht fragst du dich, was jetzt noch kommt. Immerhin kam das Schnabeltier schon vor und dass die Schöpfung unheimlich vielfältig ist, dürfte - falls dir das bisher noch nie aufgefallen war - auch rüber gekommen sein. Warum also noch mehr Text?
    Weil dieser Text aus dem ersten Buch der hebräischen Bibel, den ich oben weitererzählt habe, immer noch oft von Menschen, die meistens sehr großen Wert darauf legen als christlich oder fromm bezeichnet zu werden oder "in der Wahrheit zu stehen", herangezogen wird, um zu behaupten, G*tt habe nun mal nur Mann und Frau geschaffen und alle Menschen, die sich selbst nicht als Männer oder Frauen vorfinden bzw. wissen, dass sie Frauen sind, obwohl ihnen bei Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde, oder wissen, dass sie Männer sind, obwohl ihnen bei Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde, gegen die Schöpfungsordnung verstoßen würden.

    Auch das römisch-katholische Lehramt sieht das bis heute so. Im Schreiben an die Bischöfe der Katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in Kirche und Welt[1]U. a. Kongregation für die Glaubenslehre: Schreiben an die Bischöfe der Katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt, Vatikanstadt 2004. von der Kongregation für die Glaubenslehre aus dem Jahr 2004 lässt sich das z. B. nachlesen. Dort wird Genesis 1 so verstanden, dass G*ttes Schöpfungshandeln darin bestünde, dass G*tt aus dem Chaos den Kosmos, also die geordnete Welt, macht, indem G*tt Binarität schafft, also eine zweipolige, zweigliedrige Ordnung: „Licht und Finsternis, Meer und Land, Tag und Nacht, Pflanzen und Bäume, Fische und Vögel, alle »nach ihrer Art«"[2]Ebd., Nr. 5., schließlich auch den Menschen als Mann und Frau.

    Gegen diese Interpretation lässt sich allerdings einiges anbringen.

    1. Bei der Aufzählung der Zweierpaare hört es bei genauem Lesen nach "Land und Meer" mit diesen schon auf. Denn bei den Himmelskörpern ist neben den zwei "großen Lichtern" (Mond und Sonne) auch von den Sternen die Rede. Bei den Tieren ist die Zweigliedrigkeit sowieso aufgebrochen. Und dann kommt der Mensch…

    Und jetzt komme ich zu 2.: Im hebräischen Text ist an dieser Stelle gar nichts von Mann und Frau zu lesen, sondern von männlich und weiblich.[3]Dies wurde zum Glück bei der Neuausgabe der Einheitsübersetzung auch berücksichtigt. Und dann liest sich der Text schon ein bisschen anders. "Männlich und weiblich erschuf er sie", kann auch heißen, dass Menschen männlich und weiblich zugleich sind. In der jüdisch-rabbinischen Tradition der Schriftauslegung ist dies durchaus eine mögliche Interpretation dieses Verses. Rabbi Yirmiyah ben Elazar, ein Bibelgelehrter des 2. Jh. n. Chr. war z. B. der Meinung, dass der erste Mensch androgyn von G*tt geschaffen wurde.[4]Bereishit Rabbah 8:1; vgl. auch: https://www.keshetonline.org/resources/gender-fluidity-in-the-jewish-tradition/ und Rabbi David Meyer: What the Torah Teaches Us About Gender Fluidity and Transgender … Continue reading

    Ein 3. Einwand gegen die lehramtliche Interpretation: Es gibt Exeget*innen wie Margaret Moers Wenig, die der Meinung sind, dass die Verfasser*innen von Gen 1 mit den Zweiernennungen in diesem Text ein in der Bibel gängiges poetisches Stilmittel verwendet haben, das sich Merismus nennt. Dabei werden zwei oder ein paar einzelne Elemente genannt, um auf ein vielfältiges Ganzes zu verweisen.[5]Wenig, Margaret Moers: Male and Female God Created Them: Parashat Bereshit (Genesis 1:1 - 6:8), in: Drinkwater, Greg/Lesser, Joshua/Shneer, David (Hg.): Torah Queeries: Weekly Commentaries on the … Continue reading Also mit der Nennung von Tag und Nacht ist selbstverständlich nicht gemeint, dass G*tt nur diese beiden gemacht hat, sondern natürlich auch alle anderen dazugehörigen Phänomene, z. B. die Mitte des Tages, genauso wie das, was zwischen Tag und Nacht liegt wie Abendrot und Morgengrauen. Gleiches gilt für die Aufzählung von Land und Wasser. Natürlich glauben wir, wenn wir G*tt als Schöpfer*in glauben, dass G*tt auch die Mischformen von Land und Wasser wie z. B. Moore, Sümpfe und das Watt gemacht hat.

    Das bedeutet, dass wir die Nennungen und Aufzählungen in dieser Schöpfungserzählung nicht als erschöpfend verstehen müssen, als ob nur das, was dort explizit genannt ist, zu G*ttes Schöpfung gehören würde. Vielmehr lässt sich aus dieser Perspektive sagen: G*tt ist Fan von Vielfalt. Und das gilt auch für die Menschen.

    Margaret Wenig gibt darum folgenden Lesehinweis für Gen 1, 27b: "Read not, therefore, "God created every human being as either male or female" but rather "God created human kind zachar u'nikevah male and female and every combination in between."[6]Ebd.: "Lest darum nicht »G*tt schuf jeden Menschen entweder männlich oder weiblich«, sondern eher »G*tt erschuf die Menschheit sachar u'nikeva, männlich und weiblich und jede Kombination … Continue reading

    Im Buch der Weisheit heißt es: „Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast, denn hättest du es gehasst, hättest du es nicht geschaffen" (Weish 11,24).

    trans und Transzendenz

    Ich mag ganz besonders Schnabeltiere, Pinguine, Korallen und alles andere, was nicht so ganz in unsere menschengemachten, oft binären Schubladen passt, weil sie den Glauben in mir stärken gegen lehramtliche Verlautbarungen, dass auch ich wunderbar von G*tt und nach G*ttes Bild gemacht bin.

    Denn ich bin eine von den Personen, die es laut römisch-katholischem Lehramt nicht gibt. Ich bin agender. Unter anderem so habe ich mich bei der Aktion #outinchurch geoutet. D.h. ich habe kein Geschlecht. Ich bin jenseits des Geschlechts, welches mir bei meiner Geburt zugewiesen wurde. Und darum bin ich auch trans. trans kommt aus dem Lateinischen und heißt soviel wie "über…hinaus", "jenseits".[7]Ich verstehe "trans" und "cis" als Verhältnisbestimmungen von Geschlechtsidentiät bzw. -nichtidentität und dem Zuweisungsgeschlecht. Menschen sind demnach transgeschlechtlich, wenn sie nicht, … Continue reading

    Ich überschreite die Kategorie, in die ich gesteckt wurde. Und damit hat "trans" auch mit Transzendenz zu tun. Vielleicht ist jeder Mensch in gewisser Weise trans, weil wir eben immer mehr sind als das, was andere von uns sehen oder nie wirklich in die Schubladen passen, in die wir gesteckt werden. Und vielleicht ist genau das etwas, was uns zu G*ttes Bildern macht, weil auch G*tt sich nicht fassen und festschreiben, sich nicht in Begriffe und Kategorien passen lässt.

    In Bezug auf Geschlecht gibt es ganz unterschiedliche Erfahrungen und Selbstbezeichnungen.

    Es gibt Menschen, die trans sind und sich ganz klar binär verorten, also Männer oder Frauen sind, aber bei Geburt eben anders einsortiert worden sind. Und es gibt nichtbinäre Menschen, die z. B. männlich und weiblich sind und sich vielleicht bigender oder androgyn nennen oder Menschen, die manchmal männlich und manchmal weiblich sind und für sich vielleicht das Label genderfluid verwenden.

    Darüberhinaus gibt es nichtbinäre Menschen, die weder männlich noch weiblich sind, sondern ein anderes Geschlecht, z. B. neutrois, oder ein ganz eigenes Geschlecht haben und sich evtl. maverique nennen. Wieder andere nichtbinäre Menschen sind weiblich und fühlen sich gleichzeitig noch einem oder mehreren anderen Geschlechter zugehörig.

    Schließlich gibt es nichtbinäre Menschen wie mich, die kein Geschlecht haben und sich dann z. B. agender oder genderfrei nennen. Mag sein, dass dir das kompliziert erscheint. In einer Gesellschaft, in der Zweigeschlechtlichkeit cisnormativ[8]Cisnormativität meint die Vorstellung, dass Cisgeschlechtlichkeit die Norm und Transgeschlechtlichkeit eine (pathologische) Abweichung darstellt. Außerdem basiert Cisnormativität auf den Annahmen, … Continue reading als grundlegendes Ordnungssystem alle Bereiche, Institutionen, Diskurse und Normen strukturiert und durchzieht, ist es auch tatsächlich gar nicht so einfach, geschlechtliche Nichtbinarität überhaupt als Möglichkeit zu denken.

    Binary Breaker in der Hebräischen Bibel

    Nichtsdestotrotz. Uns gibt es. Uns gibt es auch in der römisch-katholischen Kirche. Und was vielleicht noch erstaunlicher klingen mag: Uns hat es immer gegeben, auch wenn es andere Begriffe und Wörter für uns gab. Die hebräische Bibel und unsere jüdischen Geschwister kennen uns in ihren Auslegungs- und Rechtstexten. Und auch Jesus werden in der Bibel Worte in den Mund gelegt, in denen er von Menschen spricht, die - in heutiger Terminologie gesprochen - keine cis Männer oder Frauen sind. Ich möchte dir ein paar Beispiele geben.

    Fangen wir mit Joseph an. Joseph war laut des Buchs Genesis das Lieblingskind von Jakob, einem der Stammväter des späteren Volkes Israel. Von ihm bekam Joseph ein prächtiges und sogar selbst gemachtes buntes Ärmelkleid geschenkt. Joseph hatte seltsame Träume und zog sich den Hass der Brüder zu. Sie versuchten Joseph in einer Zisterne zu ertränken. Wir können die Geschichte an dieser Stelle nicht weiterverfolgen. Du kannst sie in Gen 37ff nachlesen.

    Was aber für unseren Kontext spannend ist: Das Wort, mit dem dieses bunte Ärmelkleid beschrieben wird, gibt es nur noch an einer anderen Stelle in der hebräischen Bibel. Darum ist es auch gar nicht so leicht, zu übersetzen oder zu sagen, um was genau es sich dabei handelt. Aber an dieser anderen Stelle wird ketonet passim für ein Kleidungsstück verwendet, von dem gesagt wird, dass es Königstöchter, in besagter Stelle Tamar, die Tochter von König David, getragen haben.[9] 2 Sam 13,18f. Es lässt sich also sagen: Joseph hat ein Prinzessinnenkleid bekommen und sich in es gewandet.

    Es gibt jüdische und christliche Interpretationen, die dies als Hinweis darauf sehen, dass Joseph sich nicht geschlechtskonform verhalten und gekleidet hat. Sie sehen u. a. darin eine Erklärung für den Mordversuch, den Josephs Brüder unternehmen. Ähnlich wie auch heute noch manche Menschen (familiäre) Gewalt erleben oder gar mit dem Tod bedroht sind, wenn sie sich z. B. als transgeschlechtlich outen.[10]Vgl. Paige, Chris: OtherWise Christian. A guidbook für transgender liberation, 2019, S. 100. Eine empowernde queere Perspektive auf Josephs Geschichte findet sich auch in dem spoken word Text … Continue reading

    Der deutsche Ableger der jüdischen Initiative „keshet“[11]eine LGBTIQ+ Bewegung, keshet = Regenbogen hat in einem Instagrampost zum International Non-binary Day am 14. Juli 2021 darauf hingewiesen, dass das Judentum sechs Geschlechterkategorien in seinen Lehr- und Auslegungstexten kenne:[12]An anderer Stelle ist sogar von acht Kategorien die Rede, vgl. z. B. Scheinermann, Rachel: The Eight Genders in the Talmud. Judaism has recognized nonbinary persons for millennia, … Continue reading

    Der Begriff tumtum wird dabei z. B. im Talmud von Rabbi Ammi für Abraham und Sarah verwendet. Er erklärt sich so, dass die beiden laut biblischer Erzählung zuerst keine Kinder bekommen konnten und erst im hohen Alter auf übernatürliche Weise Eltern von Isaak wurden.[13]Yevamot 64a, vgl. Arachin 4b ~ The Tumtum, the Androgyne, and the Fluidity of Gender, zuletzt abgerufen am 24.5.2022.

    Ein anderes Wort, das im Zusammenhang mit Geschlecht in der hebräischen Bibel 42x vorkommt, ist „saris“. Es wird unterschiedlich übersetzt und hat auch unterschiedliche Phänomene bezeichnet. Die griechische Entsprechung ist eunouchos. Es wurden durchaus unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Kontexten mit diesem Wort beschrieben. Auch außerbiblisch ist es belegt. Teilweise hat es eine dritte geschlechtliche Existenzweise bezeichnet, teilweise Menschen, die sich nicht ihrem zugewiesenen Geschlecht entsprechend verhalten haben, teilweise Menschen mit uneindeutigen Geschlechtmerkmalen bzw. Geschlechtsentwicklung, teilweise Menschen, die nicht zeugungsfähig waren. [14]Teilweise ging es auch um Menschen, die im Kontext von Krieg und Versklavung Genitalverstümmelungen erleiden mussten worden sind. vgl. Paige, Chris, a. a. O. [Fußnote 10], S. 52 ff.

    Biblische Schriften und jüdische Tradition kennen also Menschen, die nicht (heutigen) binären, cisnormativen Geschlechtervorstellungen entsprochen haben.

    Die folgende Karte illustriert, dass es zu anderen Zeiten und an verschiedenen Orten durchaus Geschlechterkonzepte gab/gibt, die über die Kategorien Mann und Frau hinausreichen bzw. daneben existiert haben/existieren. Dass diese Tatsache in westlichen Kontexten eher unbekannt ist, hängt u. a. damit zusammen, dass diese in vielen Fällen durch Kolonisierung und christliche Mission unterdrückt oder zum Verschwinden gebracht worden sind.

    A Map of Gender-Diverse Cultures

    Kommt klar!

    Nun zu der Bibelstelle, in der Jesus von eunouchoi redet. Es handelt sich um Mt 19,11f. An dieser Stelle wird eunouchos in der aktuellen Einheitsübersetzung mit „zur Ehe unfähig“ wiedergegeben. Die Lutherbibel 2017 spricht von „Verschnittenen“. In einer Erklärung in der Übersetzung „Hoffnung für alle“ wird gesagt, dass es sich um zeugungsunfähige Menschen handle. Ich lasse das griechische Wort stehen, um die intertextuellen Bezüge nicht unsichtbar zu machen. Dem Zitat voraus gehen Fragen nach Ehe, Ehescheidung und, ob es nicht besser sei, gar nicht zu heiraten. Dies ist die zugegebenermaßen etwas kryptische Antwort Jesu darauf:

    "Nicht alle können dieses Wort erfassen, sondern nur die, denen es gegeben ist. Es gibt eunuchoi, die so aus der Mutter Leib geboren sind, es gibt andere eunuchoi, die sind von den Menschen dazu gemacht worden, und es gibt weiterhin eunuchoi, die sich selbst wegen des Reiches G*ttes dazu gemacht haben. Wer fähig ist zu verstehen, soll verstehen."

    Mt 19,11f

    Was auch immer genau die Aussageabsicht (gewesen) sein mag, was mir wichtig ist: Die verschiedenen Kategorien von eunouchoi, die genannt werden, werden als existent vorgestellt und nicht be- oder gar verurteilt. Allerdings scheint es auch damals für manche Menschen schwer vorstellbar gewesen zu sein, dass es Menschen gibt, die binäre, heteronoramtive Geschlechtervorstellungen sprengen. "Wer es fassen kann, der*die fasse es." Für mich klingt das nach: Auch wenn ihrs nichts versteht, vielleicht auch nicht verstehen wollt, es ist, wie es ist. Kommt klar.
    Das nenne ich mal eine Ansage.

    Und schließlich findet sich in der Apostelgeschichte die Geschichte eines Menschen aus Äthiopien, für den auch das Wort eunouchos verwendet wird, ein hoher Hofbeamter. Dieser Mensch ist auf dem Rückweg von Jerusalem, wo er zu G*tt gebetet hat, obwohl er vermutlich nicht jüdisch war. Er liest auf der Fahrt in einer Jesajaschriftrolle.[15]Möglicherweise sogar in Jes 56, 3-5: "Der Fremde, der sich dem HERRN angeschlossen hat, soll nicht sagen: Sicher wird er mich ausschließen aus seinem Volk. Der Eunuch soll nicht sagen: Sieh, ich … Continue reading Philippus, einer der sieben Diakone der Jerusalemer Urgemeinde, trifft auf ihn und fragt ihn, ob er denn auch verstehe, was er lese. Philippus legt ihm die Schriftstelle aus. Als sie an Wasser vorbeikommen, fragt der Mensch aus Äthiopien, was denn einer Taufe entgegenstünde. Philippus tauft ihn schließlich.[16]Vgl. Apg 8,26-14.

    Mich berührt es immer wieder sehr, wenn ich mir bewusst mache, dass die erste Person, die nach Jesu Tod laut Apostelgeschichte getauft wurde, ein Mensch war, der (a) fremd war in Jerusalem [17]nach heutigen Vorstellungen vermutlich auch Teil der BiPoc Community, der (b) wahrscheinlich nicht jüdisch war wie zuerst ja alle Anhänger*innen von Jesus, der (c) kein freier Mensch war, sondern an einem Königshof im Dienst stand, und der (d) – so drückt es Chris Paige aus – otherwise gendered, war. Eine Hoffnungsvision für mich und vielleicht auch für viele anderen Menschen, die nicht in die kirchlichen/gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen passen.

    Die Botschaft lautet: Bei G*tt gehören auch wir dazu. Und kein Mensch kann uns das absprechen. Weder Päpste, noch Bischöfe, noch irgendjemensch sonst.

    Das ist heilsam für mich, weil es mir hilft, mich von den verletzenden, ausschließenden und diskriminierenden Haltungen und Äußerungen meiner Kirche ein bisschen freier zu machen und weil es mich daran erinnert, dass nicht ich es bin, der*die aufgrund dessen, wie ich (geschaffen) bin, zur Umkehr gerufen ist, sondern diejenigen, die Normen und vermeintlich vom Himmel gefallene Lehren über die unverletzliche Würde von Menschen stellen.

    In einer kreativen Gebetszeit ist im Herbst 2020 diese Skulptur aus Kreppband und Buchstabensteinen entstanden:

    Später dann irgendwann folgender Text dazu:

    heiliger boden
    
    ich bin
    nicht möglich
    
    unmöglich
    meint ihr
    
    ich bin
    fremd
    in eurem eindeutigkeitsland
    im "entweder-oder"
    in der ordnung
    die ihr
    als "g*ttliche"
    in die schöpfung
    eingeschrieben habt
    
    durch mich
    verlaufen ständig
    grenzlinien
    bin zur
    zerrissenheit gezwungen
    weil ihr
    - nicht g*tt -
    alles geordnet habt
    abgelegt
    in schubladen
    einsortiert
    im ordnungssystem
    
    ein apotheker*innenschrank
    mit fein säuberlich
    getrennten fächern
    gelabelt
    mit euren namen
    mit euren definitionen
    
    doch
    ich stehe
    in keinem bestimmungsbuch
    bin nicht zu fassen
    bin nicht
    männlich
    noch weiblich
    noch...
    
    bin
    einfach ich
    g*ttes bild
    
    unfassbar
    
    eure bilder
    überschreitend
    [trans]
    die ihr euch
    von mir macht
    
    die andere sich
    von mir gemacht haben
    
    nach meiner geburt
    aufgrund der größe
    eines bestimmten körperteils
    
    sie haben
    sich geirrt
    
    ihr irrt euch
    wenn ihr meint
    zu wissen
    wer ich bin
    wie ich bin
    
    euer irrtum
    legt mich fest
    verkennt mich
    macht mich
    unsichtbar
    schließt mich aus
    
    schaut doch hin
    
    aber macht euch
    kein bild
    
    "ich bin
    wer ich bin"
    (ex 3, 14)
    

    Dieser Text ist eine überarbeitete Variante eines Impulsvortrags, den ich anstelle einer Predigt in der G*ttesdienstreihe "kreuz und mehr" in Oberachern am 7.5.2022 gehalten habe.


    Literaturverweise und Hinweise

    Literaturverweise und Hinweise
    1 U. a. Kongregation für die Glaubenslehre: Schreiben an die Bischöfe der Katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt, Vatikanstadt 2004.
    2 Ebd., Nr. 5.
    3 Dies wurde zum Glück bei der Neuausgabe der Einheitsübersetzung auch berücksichtigt.
    4 Bereishit Rabbah 8:1; vgl. auch: https://www.keshetonline.org/resources/gender-fluidity-in-the-jewish-tradition/ und Rabbi David Meyer: What the Torah Teaches Us About Gender Fluidity and Transgender Justice 2018; beides zuletzt abgerufen am 20.05.2022.
    5 Wenig, Margaret Moers: Male and Female God Created Them: Parashat Bereshit (Genesis 1:1 - 6:8), in: Drinkwater, Greg/Lesser, Joshua/Shneer, David (Hg.): Torah Queeries: Weekly Commentaries on the Hebrew Bible, New York 2009, S. 16.
    6 Ebd.: "Lest darum nicht »G*tt schuf jeden Menschen entweder männlich oder weiblich«, sondern eher »G*tt erschuf die Menschheit sachar u'nikeva, männlich und weiblich und jede Kombination dazwischen.«" [Übersetzung R.S.].
    7 Ich verstehe "trans" und "cis" als Verhältnisbestimmungen von Geschlechtsidentiät bzw. -nichtidentität und dem Zuweisungsgeschlecht. Menschen sind demnach transgeschlechtlich, wenn sie nicht, nicht nur, nicht ganz und/oder nicht immer das Geschlecht haben, das ihnen bei Geburt zugewiesen worden ist.

    Damit nicht nur Menschen, die trans sind, markiert sind (als "Normabweichung"), wurde von Menschen, die sich für die Entpathologisierung und Antidiskriminierung von trans Menschen einsetzen, der Begriff cisgeschlechtlich für die Menschen eingeführt, die das Geschlecht haben, das ihnen bei Geburt zugewiesen worden ist. Auch cis kommt aus dem Lateinischen und bedeutet soviel wie "binnen, diesseits, innerhalb".

    8 Cisnormativität meint die Vorstellung, dass Cisgeschlechtlichkeit die Norm und Transgeschlechtlichkeit eine (pathologische) Abweichung darstellt. Außerdem basiert Cisnormativität auf den Annahmen, dass es nur zwei Geschlechter gäbe und Geschlecht/Geschlechtsbewusstsein an körperlichen Merkmalen ablesbar und zuweisbar wäre.
    9 2 Sam 13,18f.
    10 Vgl. Paige, Chris: OtherWise Christian. A guidbook für transgender liberation, 2019, S. 100. Eine empowernde queere Perspektive auf Josephs Geschichte findet sich auch in dem spoken word Text Josephine (The Bible on Trans* People) von J Mase III. Hier eine Version mit Text zum Mitlesen: https://ythi.net/practice-spoken-english/1QgLjR7UTVE/. Was eine solche Perspektive für trans Menschen bedeuten kann, die zeitlebens von toxischen, transfeindlichen christlichen Narrativen umgeben waren, lässt sich aus den Worten von Mac lesen: "If Joseph wore a princess dress, then for the first time, I see someone in our holy Scripture who is like me. Someone who bends — or even breaks — the expectations of gender. I can read the story of my faith tradition and see in it the radical possibility that God loves even me. Because God has done it before. God loved and protected Joseph, a gender-non-conforming kid, even through hardship", Mac: Princess Dresses and Radical Possibilities, https://religiousqueeries.com/2020/12/31/princess-dresses-and-radical-possibilities/, zuletzt abgerufen am 24.5.2022.
    11 eine LGBTIQ+ Bewegung, keshet = Regenbogen
    12 An anderer Stelle ist sogar von acht Kategorien die Rede, vgl. z. B. Scheinermann, Rachel: The Eight Genders in the Talmud. Judaism has recognized nonbinary persons for millennia, https://www.myjewishlearning.com/article/the-eight-genders-in-the-talmud/, zuletzt abgerufen am 24.5.2022.
    13 Yevamot 64a, vgl. Arachin 4b ~ The Tumtum, the Androgyne, and the Fluidity of Gender, zuletzt abgerufen am 24.5.2022.
    14 Teilweise ging es auch um Menschen, die im Kontext von Krieg und Versklavung Genitalverstümmelungen erleiden mussten worden sind. vgl. Paige, Chris, a. a. O. [Fußnote 10], S. 52 ff.
    15 Möglicherweise sogar in Jes 56, 3-5: "Der Fremde, der sich dem HERRN angeschlossen hat, soll nicht sagen: Sicher wird er mich ausschließen aus seinem Volk. Der Eunuch soll nicht sagen: Sieh, ich bin ein dürrer Baum. Denn so spricht der HERR: Den Eunuchen, die meine Sabbate halten, die wählen, was mir gefällt und an meinem Bund festhalten, ihnen gebe ich in meinem Haus und in meinen Mauern Denkmal und Namen. Das ist mehr wert als Söhne und Töchter: Ich gebe ihnen einen ewigen Namen, der nicht ausgelöscht wird.
    16 Vgl. Apg 8,26-14.
    17 nach heutigen Vorstellungen vermutlich auch Teil der BiPoc Community

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