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Queer-Story

Queere Spurensuche bei Personen der Bibel und Kirchengeschichte

Trans*1, nichtbinär2, inter*3, geschlechtliche Vielfalt – ein modernes Phänomen? Oder gab es schon immer Menschen, die die Geschlechtervorstellungen von männlich und weiblich überschritten haben, auch wenn es andere Begriffe für sie gab?

Mit Queer-Story begeben wir uns auf Spurensuche in Bibel und Kirchengeschichte.

Wir suchen Leerstellen, Uneindeutigkeiten, Zwischenräume. Wir fragen in der Tradition historisch-kritischer, gesellschaftskritischer, (queer-)feministischer und befreiungstheologischer Ansätze nach Spuren dessen, was wir heute – in Bezug auf Geschlechtlichkeit – als „queer“ bezeichnen: Uneindeutiges, nicht in unsere westlichen, modernen geschlechtlichen Normen von männlich und weiblich, d.h. nicht in das binäre Geschlechtersystem Passendes.

Queer-Story behauptet nicht, dass die vorgestellten Menschen queer waren. Aber eine Re-Lektüre von biblischen Geschichten und Menschen der Kirchengeschichte aus einer queeren Perspektive zeigt Spuren auf, wie Menschen auch verstanden werden können, wenn wir die traditionellen Lesegewohnheiten übersteigen und hinterfragen. So empowert sie Menschen heute, die nicht in die kirchlichen und gesellschaftlichen Geschlechternormen passen, und zeigt, wie G*tt4 zu unterschiedlichen Zeiten mit ganz unterschiedlichen Menschen unterwegs war und Geschichte mit ihnen geschrieben hat – mit männlichen, mit weiblichen, mit Menschen irgendwo dazwischen, jenseits von männlich und weiblich oder geschlechterfrei.

Dr. Silke Obenauer, Pfarrer*in, Evangelische Landeskirche in Baden
Raphaela Soden, Bildungsreferent*in, Erzdiözese Freiburg

Worterklärungen

1 Menschen sind trans(geschlechtlich), wenn sie nicht, nicht nur, nicht immer, nicht ganz das Geschlecht haben, das ihnen bei Geburt zugeordnet worden ist.

2 Das Wort nichtbinär verwenden Menschen, um zu sagen, dass sie keine Männer oder Frauen sind.

3 Menschen sind inter(geschlechtlich), wenn sie nicht in die medizinische Norm von männlich oder weiblich passen.

4 Wir schreiben „G*tt“, um das patriarchal-männliche Bild, das sich in Jahrhunderten in unseren Theologien, Gebeten, Köpfen und Herzen breit gemacht hat, zu irritieren. Gleichzeitig schließen wir uns damit der Tradition unserer jüdischen Geschwister an, den G*ttesnamen nicht auszusprechen. Daran anknüpfend wird im Deutschen das Wort G*tt von manchen Juden*Jüdinnen G’tt geschrieben.

Joseph (Genesis/1.Mose 37-50)
Was die Bibel über Joseph erzählt (Genesis/1. Mose 37-50)

Joseph wächst mit Brüdern auf. Im Gegensatz zu ihnen ist Joseph eher ruhig und verträumt. Der Vater mag Joseph besonders, weil er Joseph im hohen Alter bekommen hat. So schenkt er Joseph einen bunten Rock, die Brüder sind eifersüchtig. Eines Nachts träumt Joseph: Die Brüder verneigen sich im Traum vor Joseph, in einem weiteren Traum auch die Eltern. Als der Vater Joseph zu den Brüdern aufs Feld schickt, um nach ihnen zu sehen, wird Joseph von seinen Brüdern überwältigt, sie ziehen Joseph den bunten Rock aus und werfen Joseph in einen leeren Brunnen. Später verkaufen sie Joseph an eine Karawane. Dem Vater sagen sie, ein Tier habe Josef getötet – als Beweis zeigen sie ihm den Rock, den sie mit Tierblut beschmiert haben.

So kommt Joseph nach Ägypten, arbeitet dort im Haushalt des Leiters der königlichen Wache und gewinnt sein Vertrauen. Nach einer Verleumdung wird Joseph ins Gefängnis geworfen. Joseph deutet zwei Träume von Gefangenen und die Deutungen treffen ein. Zwei Jahre später wird Joseph zum König gerufen, da den König Träume beschäftigen, die er nicht deuten kann. Joseph deutet mit göttlicher Hilfe die Träume des Königs und sieht nach Jahren des Überflusses Jahre der Hungersnot kommen. Der König macht Joseph zu seiner Stellvertretung und beauftragt Joseph mit der Speicherung der Essvorräte. Die Entwicklungen bestätigen die Träume und Josephs Deutung. Nach Jahren des Überflusses kommt eine große Hungersnot. Während die Menschen in den Nachbarländern hungern, haben die Menschen in Ägypten genug zu essen. Davon erfährt auch Josephs Familie in Israel und so reisen Josephs Brüder nach Ägypten, um Getreide zu kaufen. Als die Brüder zum zweiten Mal nach Ägypten reisen, gibt sich Joseph ihnen zu erkennen und verzeiht den erschreckten Brüdern. In der Folge zieht auch der Vater nach Ägypten und Josephs Familie überlebt die Hungersnot.

Queere Re-Lektüre/queere Spuren aus heutiger Sicht

Es fällt auf: Joseph wird nicht typisch männlich beschrieben – und genau das wird Joseph zum Verhängnis: Joseph ist ruhig, sensibel, verträumt und mit einer besonderen Intuition ausgestattet, Träume anderer zu deuten. Als er seine Brüder in Ägypten wieder trifft und sie erkennt, wird wiederholt erzählt, dass er sich zum Weinen zurückzieht. Auch sein bunter Rock könnte queer gelesen werden. Denn Bibelwissenschaftler*innen haben herausgefunden, dass das hebräische Wort für den Rock, den Joseph von seinem Vater geschenkt bekommt, selten vorkommt und das Kleid einer Königstochter bezeichnet (vgl. 2 Samuel 13,18-19). Joseph – ein Held in Frauenkleidern, in einem (regenbogen)bunten Gewand, mit weiblichen Zügen?! Diesen queeren Spuren folgend fragt Kerstin Söderblom, ob zum Neid und zur Eifersucht der Brüder „vielleicht noch die Angst vor dem Fremden dazu“ kam. „Haben sie sich vom Anderssein des Bruders abgegrenzt? … Die Norm für junge Männer gab etwas anderes vor: körperliche Stärke, Abenteuergeist und Machtinstinkt.“ (Söderblom, Queersensible Seelsorge, S. 49)

Joseph könnte als ein Mensch mit stark ausgeprägten weiblichen Zügen gesehen werden. Aber auch trans* Personen ermutigt diese Deutung, denn die Geschichte erzählt: G*tt bleibt bei einem Menschen und rettet Leben durch ihn, gerade dadurch, dass dieser „anders“ ist und nicht in die klassischen Schubladen passt.

Mac, eine Person, die sich als „queer/trans seminarian“ (queer/trans Person, die angehende*r Pastor*in ist), schreibt zu Joseph auf ihrem Blog: „Wenn Joseph ein Prinzessinnenkleid getragen hat, dann sehe ich zum ersten Mal eine Person in unserer heiligen Schrift, die ist wie ich. Eine Person, die Geschlechtererwartungen verbiegt oder sogar bricht. Ich kann die Geschichte meiner Glaubenstradition lesen und in ihr die radikale Möglichkeit entdecken, dass G*tt sogar mich liebt. Weil G*tt es schon einmal getan hat. G*tt liebte und beschütze Joseph, ein gender-nonkonformes Kind, selbst in der größten Not. In einer Welt, in der ich in Angst vor körperlicher Gewalt lebe, weil ich so bin, wie G*tt mich geschaffen hat, ist dieser Teil der Geschichte zusätzlich etwas, an den ich mich klammern kann.“1 (Mac, Princess Dresses and Radical Possibilities, https://religiousqueeries.com/2020/12/31/princess-dresses-and-radical-possibilities; Übersetzung R. S.)

Popkulturelle Bezüge

Der Schwarze Dichter J. Mase III., der sich selbst als transgender und queer bezeichnet, hat die Josephsgeschichte bearbeitet: „Joseph – Josephine – Jo“

Anmerkungen

1 „If Joseph wore a princess dress, then for the first time, I see someone in our holy Scripture who is like me. Someone who bends — or even breaks — the expectations of gender. I can read the story of my faith tradition and see in it the radical possibility that God loves even me. Because God has done it before. God loved and protected Joseph, a gender-non-conforming kid, even through hardship.In a world where I live in fear of physical violence for who God created me to be, that extra piece of the story is something I can cling to.“

Literatur

Kerstin Söderblom, Queersensible Seelsorge, Göttingen 2023, S. 48-51.

Mac, Princess Dresses and Radical Possibilities, https://religiousqueeries.com/2020/12/31/princess-dresses-and-radical-possibilities.

Mensch aus Äthiopien (Apostelgeschichte 8,26-40)
Was die Bibel erzählt (Apostelgeschichte/Acta 8,26-40)

Eine Person aus Äthiopien, die sich am Hof der Königin um die Finanzen kümmert, reist zum Tempel nach Jerusalem. Sie möchte dort G*tt anbeten. Auf der Heimreise liest die Person in den Schriften des Propheten Jesaja. Der Apostel Philippus ist – einem himmlischen Auftrag folgend – auf dieser Straße unterwegs. Er nähert sich dem Wagen der fremden Person und spricht sie an. Er fragt sie, ob sie verstehe, was sie lese. Die Person aus Äthiopien verneint und bittet Philippus zu ihr auf den Wagen aufzusteigen und ihr die Schriftstelle zu erklären. Philippus legt ihr die Jesaja-Stelle aus und erzählt ihr von Jesus. Sie ist begeistert. Als sie an einer Wasserstelle vorbei kommen, äußert die äthiopische Person die Bitte, dass Philippus sie tauft. „Da ist Wasser! Was steht dem entgegen, dass ich getauft werde?“ Philippus tauft sie und sie zieht voll Freude weiter.

Queere Re-Lektüre/queere Spuren aus heutiger Sicht

Von der äthiopischen Person wird erzählt, sie sei „eunuchos“: vielleicht ein im Kontext von kriegerischen Auseinandersetzungen genitalverstümmelter Mensch. Vielleicht ein Mensch mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen. Vielleicht ein nicht klar zweigeschlechtlich einordenbarer Mensch. Mit diesem Wort wurden unterschiedliche Menschen bezeichnet. Auf jeden Fall ein Mensch, der mit heutigen westlichen Begriffen nicht ins binäre Geschlechtersystem von männlich und weiblich passt. Sowohl Luther als auch andere Übersetzungen haben das weggelassen, unsichtbar gemacht, und übersetzen lediglich mit „Kämmerer“. Heute würden wir diese Person möglicherweise korrekterweise mit * bezeichnen.

Vermutlich durfte der*die äthiopische eunuchos den Tempel nicht betreten, allenfalls den äußeren Vorhof. Denn das jüdische Gesetz hat dies verboten. Sie galten als unrein. Auch in 5. Mose/Dtn 23,2 ist negativ festgehalten: Kein eunuchos/saris (hebräische Bezeichnung) darf zur Versammlung G*ttes kommen – g*ttesdienstliche Gemeinschaft ist ihnen versagt. Dennoch war die Person nach Jerusalem gereist, um im Tempel G*tt anzubeten. Vermutlich wurde ihr kein Einlass gewährt. Als sie auf Philippus trifft und um die Taufe bittet, sieht dieser ihr Suchen, ihre Ernsthaftigkeit und tauft sie. Das genügt! Der*die Schwarze eunuchos ist der erste heidnische, d.h.: nicht-jüdische, Mensch, dessen Taufe die Bibel erzählt. Auf ihn führt sich eine ganze Tradition und Kirche innerhalb der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche zurück. In ihm wird anschaulich, was Paulus im Galaterbrief schreibt: „Alle seid ihr durch den Glauben Kinder G*ttes in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Es gibt nicht mehr jüdisch und griechisch, nicht versklavt und frei, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid eins in Christus Jesus.“ (3,26-28)

Schon im Ersten Testament gibt es beim Propheten Jesaja eine Zukunftsvision, in der kein eunuchos/saris mehr aus der Gemeinde G*ttes ausgeschlossen ist (56,3-5; vgl. auch Weisheit 3,14):

„Die Sarisim (im Hebräischen: לַסָּֽרִיסִים֙ = Mehrzahl von saris; in der griechischen Septuaginta: Τοῖς εὐνούχοις = Mehrzahl von eunouchos) sollen nicht sagen: ‚Sieh, ich bin ein vertrockneter Baum.‘ So spricht G*tt: ‚Die Sarisim, die aber meine Sabbate einhalten, die sich für das entscheiden, was mir gefällt, und an der Verpflichtung mir gegenüber festhalten, denen werde ich in meinem Haus und in meinen Mauern die Hand reichen und einen Namen geben. Sie werden besser als Söhne und Töchter gestellt sein. Einen dauerhaften Namen werde ich ihnen geben, einen, der nicht ausgelöscht wird.“

Die Person aus Äthiopien: eine geschlechtlich nicht eindeutig einzuordnende Person1, ein*e Fremde*r, in heutigen Worte ein*e BIPoC2. Die erste nicht jüdische Person, von deren Taufe die Bibel berichtet. Für trans*, inter* und nichtbinäre Personen eine wichtige Identifikationsfigur, denn sie legt Spuren, dass von Anfang an Menschen zur Christusgemeinschaft vollwertig dazu gehört haben, die nicht eindeutig männlich oder weiblich bzw. keine Männer oder Frauen sind.

Anmerkungen

1 In den Worten von Chris Paige: „otherwise gendered“.

2 BIPoC ist eine Sammelbezeichnung von und für unterschiedliche Menschen, die rassifiziert werden. Sie stammt aus dem US-amerikanischen Kontext und lässt sich nicht gut ins Deutsche übertragen, ohne wiederum Worte zu verwenden, die eine rassistische Geschichte haben. Darum wird sie auch unübersetzt im Deutschen verwendet. B steht für Black=Schwarz, I steht für Indigenous=indigen, PoC steht für People/Person of Color=Menschen/Person, die nicht-weiß ist.

Literatur

Kerstin Söderblom, Queersensible Seelsorge, Göttingen 2023, S. 101-103.

Chris Page, OtherWise Christian. A guidbook für transgender liberation, 2019.

Wilgefortis
Die Legendenbildung

Wilgefortis ist die siebte Tochter eines portugiesischen Königs im Mittelalter. Sie legt ein Keuschheitsversprechen gegenüber Christus ab, doch der Vater möchte sie mit einem sizilianischen Sarazenenfürst verheiraten. Wilgefortis betet darum, für ihren Verlobten abstoßend gemacht zu werden. G*tt erhört das Beten von Wilgefortis und lässt Wilgefortis einen Bart wachsen. Die Hochzeit wird abgesagt, der Vater wird sehr wütend und lässt Wilgefortis kreuzigen. Wenn sie schon so an Christus hängt, soll sie auch wie er sterben.

In manchen Legenden finden sich Züge einer Bekehrungserzählung. Wilgefortis, zum Christentum bekehrt, widersteht der Hochzeit mit einem Heiden und dies wird zu einem Zeugnis des Glaubens von Wilgefortis.

Queere Re-Lektüre/queere Spuren aus heutiger Sicht

Eine bärtige Frau am Kreuz, gekreuzigt? Der gekreuzigte Jesus mit einem blauen Mantel, Zeichen für das Weibliche? Kaum vorstellbar.

Und doch ist Wilgefortis in der Volksfrömmigkeit lange präsent, was die unterschiedlichen Stränge der Legendenbildung zeigen, mit einer Hochzeit vom 14.-16. Jh. So gibt es gleiche und ähnliche Figuren und Legenden im spanischsprachigen (Santa Librada), im flämischen (Ontkommer) und im deutschsprachigen Raum (Hülpe). Als heilige Kümmernis ist sie u. a. auch bei den Gebrüdern Grimm zu finden.

Was diese Traditionen allesamt gemeinsam haben: Wilgefortis kann queer gesehen werden, geschlechtlich nicht eindeutig einzulesen. Und zwar – durch G*tt dazu gemacht. Wilgefortis wird zur Zuflucht für Personen mit unerfülltem Kinderwunsch und für Frauen, die unter den Weiblichkeitsnormen leiden, weil sie diese nicht erfüllen. In neuerer Zeit wird sie wiederentdeckt von trans*, nichtbinären und/oder intergeschlechtlichen Menschen, aber auch von asexuellen/aromantischen Personen.

Popkulturelle Bezüge
Weitere Informationen

https://qspirit.net/saint-wilgefortis-bearded-woman/.

Marina/Marinos
Die Legendenbildung

Im 5. Jh. wird im Libanon ein Kind geboren. Ihm wird der Name Marina gegeben. Nach dem Tod der Mutter beschließt der Vater, Mönch zu werden. Marina – inzwischen schon im Jugendalter – fühlt sich ebenfalls von G*tt gerufen, begleitet den Vater, tritt ins Kloster ein und wählt dafür den Namen Marinos. Seit diesem Tag lebt Marinos als Mann, als Mönch.
Eines Tages wird Marinos auf einer Reise unterstellt, die Tochter des Wirts eines Gasthauses, in dem die Mönche übernachtet haben, geschwängert zu haben. Marinos weiß: der Beweis, nicht der Vater des Kindes sein zu können, würde das Ende eines Lebens der eigenen Berufung bedeuten. Darum bekennt sich Marinos zu dem Kind und akzeptiert die Strafe des Abtes, von nun an zwar weiterhin als Mönch doch außerhalb der Klostermauern leben zu müssen. Marinos adoptiert das Kind und zieht es auf. Nach Marinos‘ Tod bemerkt der Abt bei der Vorbereitung des Leichnams, dass Marinos das Kind nicht gezeugt haben kann, und bittet um Verzeihung. Der Legende nach ertönt am Totenbett Marinos‘ Stimme von oben und vergibt dem Abt.

Queere Re-Lektüre/queere Spuren aus heutiger Sicht

Eine Frau im Männerkloster? Ein trans* Mann, der seiner Berufung folgt? Ein Mönch, der nicht nur im geistlichen Sinn Vater ist? Ein Vater, der obwohl er biologisch nicht der Vater ist, ein Kind alleine groß zieht?

In der Geschichte von Marina/Marinos gibt es einiges, was nicht in die klassischen christlichen und heteronormativen1 Vorstellungen von Geschlecht, Sexualität und Elternschaft passt.

Das Leben von Marina/Marinos bietet einige Anknüpfungspunkte für Menschen, die wir in heutigen Worten als trans* bezeichnen. Ein Mensch, der Geschlechtervorstellungen überschreitet („trans“ ist eine lateinische Präposition, die „über, hinüber, jenseits“ bedeutet). Ein Entschluss, so leben zu wollen, dass es der eigenen Identität entspricht, auch wenn dies nicht so ist, wie die Umwelt es erwartet. Das Ablegen des Namens, welcher bei Geburt von anderen ausgewählt wurde, der aber nicht zur eigenen Identität passen will. Ein selbstgewählter Name („chosen name“). Die Erfahrung, haarsträubenden Beschuldigungen ausgesetzt zu sein. Einen Preis, den es kostet, dennoch auf dem eigenen Weg zu bleiben.

Was für eine Identifikationsfigur für queere Christ*innen, denen es in ihren religiösen Gemeinschaften schwer gemacht wird.

Marinos wird sowohl von der maronitischen als auch in der römisch-katholischen Kirche als Heiliger verehrt.

Worterklärung

1 Als Heteronormativität wird die (unbewusste) Vorstellung von Heterosexualität als sozialer Norm verstanden. Damit verbunden ist die Annahme, dass es „natürlicherweise“ zwei und nur zwei (binäre) Geschlechter gibt, die sich komplementär zueinander verhalten (d. h. das eine ist das, was das andere nicht ist; also männlich ist das, was nicht weiblich ist und weiblich ist das, was nicht männlich ist), sich gegenseitig ergänzen und sich zwingend an Körpern ablesen lassen.

Weitere Informationen

https://qspirit.net/marinos-marina-monk-transgender/.

Johanna von Orleans
Die Legendenbildung

Die Person, die uns im Deutschen als Johanna von Orleans bekannt ist, lebt im 15. Jh.. Mit 17 Jahren führt sie erfolgreich eine Armee in Frankreich an, um dieses zu befreien. Sie ist nach Visionen, in denen Heilige und Engel ihr erscheinen, überzeugt davon, dass es G*ttes Wille ist, ihre „heilige Pflicht“, sich die Haare abzuschneiden, männlich konnotierte Kleidung zu tragen und in den Kampf zu ziehen.

Johanna von Orleans wird schließlich unter anderem für nicht genderkonformes Verhalten – das Tragen von Männerkleidung – mit 19 Jahren – auch auf Betreiben der Kirche hin – zum Tod verurteilt.

Später wendet sich das Blatt. Johanna wird heilig gesprochen und als Nationalheilige*r Frankreichs verehrt.

Viele nichtbinäre und/oder trans* Menschen, aber auch Frauen/Mädchen, vor allem junge, sehen in Johanna ein mutiges und ermutigendes Vorbild.

Weitere Informationen

https://qspirit.net/joan-of-arc-cross-dressing-lgbtq/.

Juana de la Cruz
Die Legendenbildung

Juana de la Cruz Vázquez Gutiérrez lebt im Spanien des 16. Jh. Dort steht sie (er?) einem Kloster in Spanien vor. Er (sie?) bestand darauf, dass G*tt vor seiner (ihrer?) Geburt sein (ihr?) Geschlecht von weiblich zu männlich gewandelt hat. Dass der eigenen „Adamsapfel“ sehr ausgeprägt war, galt Juana als Zeichen dafür.

Sie (er?) macht visionäre Erfahrungen und spricht dabei mit tiefer Stimme, die sich selbst als Christus identifiziert. Außerdem ist sie (er?) davon überzeugt, dass Christus jedem Menschen, der ihn sucht, so begegnet wie er es braucht: als Vater, Mutter, Ehemann, Ehefrau oder Freund*in.

Diese gendernonkonformen Bilder von G*tt, aber auch von Engeln und Heiligen teilt Juana in vielen Predigten. Diese bekommen eine große Reichweite, sodass sie (er?) als theologische Lehrer*in bekannt wird. Und das in einer Zeit, in der Theologie ein noch männlicheres Geschäft ist als heute.

Weitere Informationen

Alicia Spencer-Hall and Blake Gutt (Hg.), Trans and Genderqueer Subjects in Medieval Hagiography.

Schöpfung (Genesis 1/1 Mose 1)
Was die Bibel über die Schöpfung erzählt

Am Anfang hat G*tt Himmel und Erde erschaffen.
Da war die Erde noch leer und ungestaltet
und Dunkelheit lag über der Urflut
und G*ttes Geistkraft bewegte sich über dem Wasser.
Da sprach G*tt:
„Licht werde“.
Und Licht wurde.
G*tt sah das Licht: Ja, es war gut.
Und G*tt trennte das Licht von der Dunkelheit.
G*tt nannte das Licht „Tag“
und die Dunkelheit „Nacht“.
Es wurde Abend und es wurde Morgen:
erster Tag.

Dann sprach G*tt:
„Es werde ein Gewölbe mitten im Wasser
und trenne Wasser von Wasser.“
Und so geschah es.
Und G*tt nannte das Gewölbe „Himmel“.
Es wurde Abend und es wurde Morgen:
zweiter Tag.

Dann sprach G*tt:
„Das Wasser unterhalb des Himmels sammle sich an einem Ort,
sodass das Trockene sichtbar werde.“
Und so geschah es.
G*tt nannte das Trockene „Land“
und die Ansammlung des Wassers „Meer“.
G*tt sah: Ja, es war gut.
Dann sprach G*tt:
„Die Erde lasse junges Grün sprießen,
Gewächs, das Samen bildet,
Fruchtbäume,
die nach ihrer Art Früchte tragen mit Samen darin.“
Und so geschah es.
G*tt sah: Ja, es war gut.
Es wurde Abend und es wurde Morgen:
dritter Tag.

Dann sprach G*tt:
„Lichter sollen am Himmelsgewölbe sein,
um Tag und Nacht zu trennen.
Sie sollen als Zeichen
für Festzeiten, für Tage und Jahre dienen.
Sie sollen Lichter am Himmelsgewölbe sein,
um über die Erde zu leuchten.“
Und so geschah es.
G*tt machte die beiden großen Lichter,
das große zur Herrschaft über den Tag,
das kleine zur Herrschaft über die Nacht,
und die Sterne.

G*tt sah: Ja, es war gut.
Es wurde Abend und es wurde Morgen:
vierter Tag.

Dann sprach G*tt:
„Das Wasser soll nur so wimmeln von Schwärmen lebendiger Wesen
und Flugtiere sollen über der Erde am Himmelsgewölbe fliegen.“
Und G*tt erschuf die großen Wassertiere und alle Lebewesen,
die sich fortbewegen nach ihrer Art,
von denen das Wasser wimmelt,
und alle gefiederten Tiere nach ihrer Art.
G*tt sah: Ja, es war gut.
Es wurde Abend und es wurde Morgen:
fünfter Tag.

Dann sprach G*tt:
„Die Erde soll Lebewesen aller Art hervorbringen,
Vieh,
Kriechtiere
das Wild der Erde, alle nach ihrer Art.“
Und so geschah es.
G*tt sah: Ja, es war gut.

Dann sprach G*tt:
„Wir wollen Menschen machen
als unser Bild, uns ähnlich!
G*tt erschuf die Menschen als g*ttliches Bild,
als Bild G*ttes wurden sie geschaffen.
Männlich und weiblich erschuf G*tt sie.
G*tt segnete sie. G*tt sah alles an, was G*tt gemacht hatte:
Und siehe: Ja, es war sehr gut.

Genesis 1

Queere Re-Lektüre/queere Spuren aus heutiger Sicht

Am Anfang war also G*tt da. Mit Schaffenskraft und Tatendrang.

Ungestaltete Leere. Alles war möglich. G*tt bringt erstmal Licht ins Dunkel und: siehe, da waren nicht nur Tag und Nacht, sondern auch Polarlichter, Abendrot, Morgengrauen, kurze Tage mit wenig Licht und lange Tage mit viel Licht und so weiter.

Dann widmete G*tt sich dem Wasser. Wasser vom Himmel: Regen, Niesel, Schnee, Pulverschnee, Harsch, Hagel, Eisregen. Wasser auf der Erde: Meer und Land, aber auch das Watt, das manchmal Land ist und manchmal Wasser, Moore, die irgendwie beides gleichzeitig sind, Seen, Flüsse, Inseln und Marschland.

Dann tobte G*tt sich bei den Himmelskörpern aus: Mond und Sonne, aber auch verschiedene Sternarten, Kometen, Asteroiden, Planeten aus Gestein, Planeten aus Gas, ganze Galaxien und Schwarze Löcher kamen G*tt in den Sinn.

Dann machte sich G*tt an die Lebewesen: Pflanzen und Tiere, aber auch Mikroorganismen wie Pilze, Urtierchen und Algen. Hach, was G*tt da alles einfiel. G*tt konnte kaum an sich halten bei all den Farben und Formen und den unzähligen Kombinationen daraus, die da aus G*tt sprudelten. Bäume, Gräser, Sträucher und andere Gewächse: Schwämme, Seeanemonen und Korallen, die Pflanzen ähneln, aber zu den Tieren gezählt werden. Eierlegende Säugetiere wie das Schnabeltier. Vögel, die nicht fliegen können, dafür aber schwimmen wie die Pinguine. Fische, die schwimmen und durch die Luft gleiten können wie der Schwalbenfisch. Eine ganze Reihe von Tiere, die an Land und unter Wasser gleichzeitig leben usw.

Während G*tt so vor sich hinschöpfte und sich daran freute, was da so alles entstand, kam G*tt plötzlich eine weitere Idee. Ach komm, wir machen Menschen. Als unser Bild.

Kaum ausgesprochen, schon waren Menschen da. Manche waren weiblich, manche männlich, manche waren weiblich und männlich zugleich. Von manchen hätte mensch denken können, dass sie weiblich waren, aber sie waren männlich und umgekehrt. Manche waren weder weiblich noch männlich, sondern ganz anders oder hatten mit Geschlecht gar nichts am Hut. Unabhängig davon waren alle Menschen auch groß und klein und mittellang, hatten unterschiedliche Körperformen, Hauttönungen, Augen- und Haarfarben. Manche hatten gute Augen. Andere konnten mit den Händen sehen. Wieder andere hatten so feine Ohren, dass sie die Zwischentöne heraushören konnten. Manche hatten den Traum auf großen Bühnen Ballett zu tanzen. Andere hatten wunderbare Ideen, wie alle gut zusammenleben könnten. Wieder andere spürten, dass es manchmal mehr als genug ist, einfach zu atmen und konnten sehr gut gar nichts machen. Und und und…. Und dann gab es auch noch alle möglichen Kombinationen und Varianten, sodass am Ende jeder Mensch ein einzigartiges Individuum wurde, das es kein zweites Mal gibt und in keine einzige Schublade passte. Schließlich waren alle G*ttes Bild.

Und G*tt sah alles an, war mächtig überrascht und angetan und berührt von all der Kreativität und Lebendigkeit und Vielfalt und sagte sich: Ja, das ist alles sehr gut. Und das ist bis heute so.

Raphaela Soden

Weitere Informationen

https://feuerfunkenflug.de/ich-bin-wer-ich-bin/.

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